Wenn KI den Feature-Wahnsinn automatisiert: Warum ein schlechter Prozess mit KI nur schneller ins Verderben führt

Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen entwickelt Software. Viele Features. Noch mehr Features. Die Backlogs quellen über, jede Woche kommen neue Ideen. Aber der Kunde? Nutzt vielleicht 10 % davon. Vielleicht.

Doch statt innezuhalten, fragt sich das Unternehmen: Wie können wir den Prozess effizienter machen? Automatisieren? Mit KI unterstützen?

Und genau hier beginnt der Irrsinn:

Denn wer einen schlechten Prozess automatisiert, bekommt vor allem eins: Einen schnelleren, teureren, komplexeren schlechten Prozess.

Der KI-Turbo für Überfrachtung

Was passiert, wenn man eine KI auf ein System loslässt, das ohnehin schon keine echte Kundenorientierung hat?

  • KI analysiert historische Tickets und leitet daraus neue Feature-Vorschläge ab.
  • KI generiert User Stories, inklusive Akzeptanzkriterien, perfekt formuliert und sofort bereit für Jira.
  • KI priorisiert automatisch, basierend auf scheinbar objektiven Kriterien wie Ticket-Häufigkeit, Durchlaufzeit oder Entwicklerkapazität.

Klingt effizient? Vielleicht. Aber nur, wenn das System vorher gesund war.

In der Realität bedeutet das:

  • Noch mehr Features, noch schneller.
  • Noch mehr Tickets, noch glatter geschrieben.
  • Noch weniger echte Wirkung.

Die Automatisierung verstärkt nicht das Richtige, sondern das Falsche. Die Folge: Ein Rausch an Produktivität, der keine Wirkung zeigt.

KI ohne Richtung = Feature-Bloat in Lichtgeschwindigkeit

Der Begriff „Feature Bloat“ bezeichnet die Überfrachtung von Software mit Funktionen, die kaum jemand nutzt. Studien zufolge bleiben in klassischen Unternehmenssoftwares bis zu 80 % der Funktionen ungenutzt. Trotzdem wird weitergebaut.

Und jetzt stellen Sie sich vor, was passiert, wenn man diesen Bloat mit KI beschleunigt:

  • Features werden nicht mehr gewählt, sie werden generiert.
  • User Stories entstehen automatisch, losgelöst von echten Gesprächen mit Kunden.
  • Akzeptanzkriterien werden durch KI generiert, nicht durch Stakeholder-Rückmeldung.
  • Das Backlog explodiert.

Wem hilft das? Niemandem. Und dennoch sieht alles blendend aus:

  • Die Velocity steigt.
  • Die Commit-Zahlen gehen hoch.
  • Die Tools sind „AI-unterstützt“.

Aber die Nutzer? Verlieren sich im Labyrinth immer neuer Optionen. Und nutzen weiter nur einen Bruchteil.

Automatisierte Sinnlosigkeit: Die neue Form von Output-Illusion

Was früher Meetings waren, sind heute KI-generierte Vorschläge. Statt sich mit echten Kundenbedürfnissen auseinanderzusetzen, lassen viele Teams die Maschine „nachlegen“. Die Produktentwicklung wird zur Content-Produktion – optimiert auf Quantität.

Dabei wird vergessen: Nur weil etwas generiert werden kann, heißt das nicht, dass es gebraucht wird.

Wenn es keine systematische Validierung gibt, wird aus Effizienz reiner Leerlauf. Die KI produziert Vorschläge, die niemand braucht. Und Entwickler setzen diese um – weil sie im Sprint stehen. Weil sie durch Akzeptanzkriterien als „ready“ gelten. Weil niemand mehr fragt: Warum überhaupt?

Mehr Technik, weniger Wirkung

Das Fatale: Es wirkt beeindruckend. Da ist plötzlich eine KI, die schreibt, denkt, strukturiert. Die Entwickler sind entlastet. Die Geschwindigkeit steigt. Das Tooling ist State-of-the-Art.

Aber das Ergebnis bleibt gleich:

  • Der Nutzer ist überfordert.
  • Die Adoption stagniert.
  • Die Churnrate steigt.
  • Die Kundenzufriedenheit sinkt.

Denn was bringt ein perfekter Prozess, wenn er das Falsche produziert?

Die Ursache liegt nicht im Tool, sondern im Denken

Der Kernfehler liegt nicht in der Technik. Sondern in der Haltung:

  • Wenn der Kundennutzen kein expliziter Prüfstein ist,
  • wenn Hypothesen nicht getestet, sondern Features verkauft werden,
  • wenn „mehr“ automatisch mit „besser“ verwechselt wird,
  • wenn Prozesse nicht auf Wirkung, sondern auf Auslastung optimiert werden,

…dann kann auch KI nichts retten. Im Gegenteil: Sie beschleunigt den Niedergang.

KI ist kein Kompass. Sie ist ein Verstärker.

Ein Beispiel aus der Praxis (fiktiv, aber realistisch)

Ein mittelständisches Softwareunternehmen will „KI integrieren“. Der CTO entscheidet, ein KI-Modul soll Feature-Vorschläge aus Supportdaten ableiten. Gleichzeitig wird ein Language Model eingeführt, das User Stories automatisch schreibt und in Jira einpflegt.

Resultat:

  • Innerhalb von 6 Wochen entstehen 400 neue Features im Backlog.
  • Der Product Owner hat keine Kapazität, diese zu priorisieren.
  • Die Entwickler picken Tickets, die „ready for development“ sind – aber keinen Bezug zur Strategie haben.
  • Nach drei Monaten wird ein neues Modul ausgeliefert. Es deckt 7 neue Funktionen ab.
  • Die Kundenzufriedenheit – laut NPS-Umfrage – sinkt um 12 Punkte. Die Churnrate steigt um 8 %.

Der Grund: Kein einziges der Features adressierte ein echtes Kundenproblem. Aber sie sahen auf dem Dashboard gut aus.

Was es stattdessen braucht

  1. Hypothesengetriebene Entwicklung
    • Jedes Feature beginnt mit einer Annahme.
    • Diese wird getestet: qualitativ (Interviews) und quantitativ (Experimente).
    • Erst danach wird gebaut.
  2. Validierung statt schöner Stories
    • Die KI darf schreiben. Aber Menschen müssen hinterfragen.
    • Ist das Feature relevant? Für wen? Wann? Was ist der messbare Erfolg?
  3. Prozessverschlankung vor Automatisierung
    • Schlanke Prozesse sind die Voraussetzung für sinnvolle Automatisierung.
    • Was nicht gebraucht wird, muss entfernt werden – nicht skaliert.
  4. Kundenzentrierung statt Toolzentrierung
    • KI-gestützte Entwicklung ist kein IT-Projekt, sondern ein Value-Projekt.
    • Das Ziel ist Wirkung, nicht Durchsatz.
  5. Metriken der Wirkung, nicht der Aktivität
    • Zählen Sie nicht Features oder Velocity.
    • Messen Sie Kundennutzung, Zufriedenheit, Akzeptanz, Value Contribution pro Release.

Fazit: KI ist nur so klug wie der Kontext, in den wir sie setzen

Wer Feature-Bloat hat, sollte nicht nach mehr Geschwindigkeit suchen. Sondern nach mehr Klarheit.

KI ist kein Heilmittel. Sie ist ein Spiegel.

Und wenn Sie in diesen Spiegel schauen, sehen Sie entweder einen fokussierten, kundenorientierten Prozess – oder einen Highspeed-Feature-Zombie, der immer schneller rennt und trotzdem niemanden erreicht.

Bevor Sie KI einsetzen, stellen Sie sich eine einfache Frage:

Wollen Sie schneller werden – oder endlich das Richtige bauen?